Sie war eine Dichterin wie aus dem Bilderbuch britischer Sonderlichkeit: Edith Sitwell, aus einer bankrotten Landadelfamilie des Fin de siècle stammend, wurde zu einer Muse des Modernismus. Ihr 1923 in der Vertonung von William Walton uraufgeführter Gedichtzyklus "Facade" erlebt jetzt im Theatersaal des Tacheles eine denkbar gelungene Wiederaufführung. Gestaltet wird die szenische Lesung von den anglo-amerikanischen Schauspielern Eve Slatner und Jon Flynn, musikalisch begleitet von Absolventen der HdK und der HfM Hanns Eisler unter Leitung des Dirigenten Dominic Sargent.
Die im englischen Original vorgetragenen Gedichte Sitwells stellen mit ihrem avantgardistischen, dada-artigen Charakter nicht geringe Ansprüche an die Fähigkeiten der Schauspieler. Kennzeichnend für die artistische Sprache sind Klangfarben und Rhythmen, in denen Edith Sitwell die Musik der Roaring Twenties aufklingen ließ: Walzer, Jazz und populäre Unterhaltungsmusik.
Daß all dies in der Aufführung zur vollen Geltung kommt, ist dem Engagement der Mitwirkenden zuzuschreiben. Eve Slatner, deren Initiative die jetzige Inszenierung zu danken ist, wirkt in ihrem neogotischen Ornat und ihrer grazilen Würde selbst ein wenig wie die exzentrische Dichterin; der Stil ihrer Rezitation, die Slatner mit sparsamen Gebärden und tragender Stimme ausgestaltet, spricht von einer innigen Kennerschaft der Sitwellschen Texte. Ihr zur Seite agiert Jon Flynn ganz im Geist des Vaudeville und Cabaret der 20er Jahre in der Rolle eines dandyhaften Conférenciers. Als alerter Sprachakrobat jagt er durch sie "schnellsten Verse in englischer Sprache". Die kongenialen, an Strawinsky und Schönberg angelehnten Kompositionen William Waltons werden von dem kleinen Orchester sehr akzentuiert gespielt. Wie schon Walton ein enger Freund der Sitwells war, so hat auch der Dirigent Dominic Sargent eine persönliche Beziehung zum Stück: in der Galerie seines Vorfahren John Knewstubb kam es 1926 zum ersten Aufführungserfolg von "Facade".
Die Urauff├╝hrung des St├╝cks drei Jahre zuvor war selbst f├╝r die spleengepr├╝ften Londoner ein Skandal: Edith Sitwell rezitierte ihre Gedichte kichernd und haspelnd mit einem Megafon durch einen geschlossenen, aber immerhin surrealistisch bemalten Vorhang hindurch. Solche Extravaganzen brauchen die Zuschauer der jetzigen Wiederauff├╝hrung nicht zu f├╝rchten. Statt dessen erleben sie die sehr ansprechende Inszenierung eines St├╝cks lyrischer Weltliteratur - in Edith Sitwells eigenen Worten: "most elaborate patterns."